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Journalismus 2035 – eine Mockumentary

Nico Kunkel und Jens Stoewhase sitzen viel im Homeoffice und begeben sich in der Pandemie auf die Suche nach der Medienarbeit der Zukunft. In der ersten Folge haben wir über die Journalistin Charlotte die Recherche-App Wickert kennengelernt. In dieser Ausgabe treffen wir einen Algorithmus-Flüsterer. Wir laden Sie ein auf eine fiktionale Reise in das Jahr 2035.

Foto: © AdobeStock/desole

 

Teil 2: Der Algorithmus-Flüsterer

Im Jahre 2035 ist Markenkommunikation eigentlich überflüssig geworden. Das dämmert uns, als wir Marie kennenlernen. Sie ist Influencerin. Und Marie ist ein Algorithmus. Wir treffen sie nicht persönlich. Sie publiziert zwar permanent auf allen digitalen Kanälen, ist ein Superstar, ihre Reichweite in den sozialen Medien ist enorm. Ihre wahre Stärke ist aber der direkte Draht zu ihren Klient*innen, von denen Marie alles zu wissen scheint: Sie weiß, wie alt du bist, wo du wohnst, wen du liebst, was du gerne isst – und welches Waschmittel deine Haut am besten verträgt. Seit 2032 das Gesundheitswesen in Deutschland letztlich doch endgültig digitalisiert wurde, haben auch Influencer wie Marie bisweilen Zugriff auf die medizinischen Daten ihrer Nutzer*innen, und laut Studien nehmen sich immer mehr Menschen Maries Rat zu Herzen: Well Being und Selbstoptimierung liegen auch in den 30er-Jahren des 21. Jahrhundert im Trend. Zu Well Being gehört eben auch eine gute Portion Bequemlichkeit. Die besorgt Marie für dich, wenn du ihr zu möglichst vielen Datenquellen Zugang ermöglichst. Der Preis dafür? Je mehr Daten du freigibst, desto mehr Rabatte organisiert dir Marie für Services, die du nutzt: Versicherungen, Abos oder Memberships.

Außer den persönlichen Daten und Vorlieben ihrer Klient*innen ziehen Algorithmen wie Marie auch deren Werte- und Weltverständnis ins Kalkül, Influencer-Algorithmen kommunizieren so auch mit redaktionellen Algorithmen – wie Wickert, den wir in der ersten Folge kennengelernt haben. So kann Marie eine unabhängige Recherche und journalistische Einschätzung zu Unternehmen und Anbietern berücksichtigen. „Maries Glaubwürdigkeit hängt auch davon ab“, sagt Jörn, der als Head of Algorithm Relationship Management bei einem großen Nahrungsmittelmulti mit Sitz im Hessischen arbeitet. Klassische Werbung halte er für so gut wie tot, sagt er. „Wir konzentrieren uns darauf, einen hohen Score bei den großen Influencer-Algorithmen zu haben, die unsere Produkte am Ende ihren User*innen in den Warenkorb packen. Und ich bin hier sowas wie der Algorithmus-Flüsterer“, sagt Jörn nicht ohne Stolz und mit einem verschmitzten Lächeln. Sein Job sei eine Kombination aus PR-, Social-Media- und auch SEO-Manager, als solcher hatte Jörn 2009 ursprünglich in der Branche mal gestartet.

Irgendwann, Anfang der 2010-Jahre hatte sich Jörn als Influencer-Marketing-Stratege selbstständig gemacht, große Marke beraten, wie sie auf Influencer*innen zu gehen, wie sie deren Social-Media-Reichweite für ihren Markenaufbau und den Abverkauf nutzen. Mittlerweile haben sich viele dieser Internetstars der 2020er Jahre persönlich aus dem Geschäft und hinter die Kulissen zurückgezogen. Sie überließen ihre Profile stattdessen virtuellen Avataren und den Algorithmen, die auch in Unterhaltungsformaten oder E-Sport antreten. „Jetzt mit 51 muss ich dran bleiben. Heute sind es die 18-Jährigen, die mit den Algorithmen aufgewachsen sind. Erinnern Sie sich noch an den Begriff der Digital Natives? Ich war so einer. Die heutigen Jugendlichen nennen wir gern Algorithmic Natives“, erklärt Jörn uns halb im Scherz und halb im Schmerz.

Diese Avatare sind die neue Prominenz, als Herz und Verstand arbeitet ein Algorithmus. Aber auch hinter dem Influencer-Algorithmus Marie gibt es noch eine „Kulisse“. Es ist die Firma AlgoStar. Das Start-up wurde erst 2031 in Dakar, der Hauptstadt des Senegal in Westafrika, gegründet. Generell ist festzustellen, dass viele neue Medientrends vom afrikanischen Kontinent kommen. An den verschiedensten Ecken entwickelten sich in 2020ern neue Start-up-Städte auf dem afrikanischen Kontinent. Gleichzeitig wurde die Infrastruktur Jahr für Jahr besser. Zahlreiche Regierungen hatten verstanden, dass die digitale Infrastruktur für ihre dezentral ausgerichteten Länder nur mit neuesten Funkstandards sinnvoll funktionieren würden. Sie investierten in 5G, 6G und arbeiten mit verschiedenen chinesischen Universitäten und Konzernen bereits am 7G-Netz, das nahezu ausschließlich auf Satellitentechnologie setzt. Gleichzeitig setzten die Regierungen auf Bildung. Inzwischen ist das engmaschige Netz an privaten und öffentlichen Hochschulen so etabliert, dass Menschen aus aller Welt in großer Zahl dort studieren wollen.

AlgoStar ist eine dieser Firmen, die direkt auf dem 6G-Netzwerk läuft. Dafür hat das Team, das nur aus 15 Leuten besteht, Algorithmen in die sogenannte Giga-Cloud gepflanzt. Sie lernen von ihren verschiedenen Nutzer*innen, tauschen sich selbstständig untereinander aus und lernen grundsätzlich dazu. Die Gründerin Aminata Kouyate (27) erklärt den direkten Start in der Giga-Cloud: „Unser Land ist digital sehr gut vernetzt, Afrika ist sehr gut vernetzt. Dabei gibt es große Entfernungen zu überwinden. Gleichzeitig benötigen wir die Leistung der afrikanischen Netze auch, um das europäische und amerikanische 5G-Netz nicht zu überlasten, 6G steckt dort noch in den Kinderschuhen. Da war die Giga-Cloud naheliegend. Unser Team kommt aus den verschiedensten Ländern und lebt auch dort. Da benötigten wir reale Geschwindigkeit, die bei 5G einfach nicht mehr zu erwarten ist. “

Inzwischen ist Aminata Kouyate selbst eine erfolgreiche Investorin. Im letzten Jahr wechselte AlgoStar für (nur) 850 Millionen Euro von Amazon exklusiv zu BIG, das ist die Firma, die in den 2020ern mal Facebook hieß. Der Exklusivvertrag über zwei Jahre von AlgoStar mit BIG sorgte 2034 in der Branche für große Aufmerksamkeit. Denn es manifestierte sich ein neues Geschäftsmodell: Man mietet inzwischen Algorithmen, denn zu schnell gibt es neue Player mit noch leistungsstärkeren Funktionen. Aminata Kouyate investiert ihr eigenes Geld inzwischen in solche vielversprechenden nächsten Start-ups, die aktuell in Südamerika wie Pilze aus dem Boden sprießen sollen.

Liebe LeserInnen, wir würden uns freuen, wenn wir mit unserer kleinen „Reportage“ ein paar Diskussionsanstöße gegeben hätten. Lassen Sie uns gern Ihr Feedback über die sozialen Kanäle oder per Email [redaktion@medienrot.de] zukommen. Wie sehen Sie die Medienarbeit, wenn Sie an die Zukunft so um 2035 denken?


Über die Autoren:
nico-kunkel_150x150pxNico Kunkel ist seit mehr als zehn Jahren professioneller Beobachter von Themen und Trends in Kommunikation, PR- und Medienindustrie. Er arbeitet als freier Journalist und Impulsgeber für Events und Netzwerke in der Branche. 2012 begründete Kunkel die PR-Nachwuchsinitiative #30u30. Er ist Herausgeber des PR Career Center, das PR-Studierende unterstützt und vernetzt. Nico Kunkel lebt in Berlin. Er twittert als @prreporter.

 

 

jst-autorenbild Jens Stoewhase ist seit 2012 einer der beiden Geschäftsführer der Rabbit Publishing GmbH, die das Onlinejournal medienrot.de im Auftrag von Landau Media betreibt. Innerhalb von Rabbit Publishing verantwortet er die Contentproduktion für verschiedene B2B-KundInnen und ein Branchenportal in der Automobilindustrie. Bis Ende 2011 betreute er selbst u.a. die digitalen Aktivitäten zahlreicher kommerzieller Kinder- und Jugendmagazine und YPS. Stoewhase arbeitete vorher jahrelang für den Onlinebereich der TV-Serie „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“, als Freelancer im Musikbereich und entwickelte Konzepte für digitale Angebote im Entertainmentsegment.