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Hinter den Kulissen eines Internet-Phänomens – #Neuland aus Sicht einer Meme-Macherin

#609060-memInternet-Memes kommen und gehen. In der Kommunikationsbranche kursieren zahlreiche Mythen um diese kurzfristigen Bilder-Phänomene. Das deutschsprachige Alltagsmode-Meme #609060 feierte dieser Tage gerade seinen ersten Geburtstag. Damit dürfte es eines der längsten aktiven Memes überhaupt sein. Die Hamburger Bloggerin Journelle hat es gestartet und ist noch heute dabei. medienrot gibt sie einen tiefen Blick hinter die Kulissen – samt Zahlen und Folgen.

Alles beginnt mit Frust und einem Tippfehler

Am 10. August 2012 schrieb ich einen sehr persönlichen Blogtext über meinen Frust, dass Kleidung anscheinend nur für eine normierte Körperform entworfen und geschneidert wird. Der tatsächlichen Vielfalt an Figuren wird keinerlei Rechnung getragen. Im Gegenteil, eine Normabweichung wird als persönlicher Makel dargestellt.

Ich kündigte an, mich ab sofort regelmäßig zu fotografieren und diese Bilder bei der Foto-Plattform Instagram zu veröffentlichen. Ich tat dies, weil ich Dinge gern wiederhole, gern dokumentiere und gern sichtbar bin – auch mit meinem, aus der gewünschten Norm fallenden, Körper.

Jeden Morgen stand ich nun vor dem Spiegel in unserem Hausflur und machte mit dem Handy ein Bild von mir, für gewöhnlich ohne Kopf, weil ich einen Rest an Anonymität schätze. Darunter schrieb ich „Normale Menschen in Oberbekleidung #609060“.

Und dann war ich sehr überrascht. Zahlreiche Personen auf Twitter und Instagram griffen meine Idee auf und stellten auch Fotos von sich in Oberbekleidung online. Aus einem Flüchtigkeitsfehler im Text – ich hatte statt der Idealmaße 90-60-90 die Zahlen zu der absurden Kombination 60-90-60 verdreht – entstand ein Hashtag für die Fotos, was sich zu einem Mem entwickelte.

Begriffsklärung

Mem bezeichnet ein Phänomen, bei dem eine Idee über Verlinkungen in Blogs, Tweets, bei Facebook usw. schnell verbreitet wird. Besonders ist, dass andere Nutzer partizipieren können. Sie nehmen die Idee also auf, variieren sie, vergrößern so den Verbreitungsradius und im besten Fall auch den Unterhaltungswert.

Wirkung

Nicht selten werden Mems im Verlauf von den klassischen Medien aufgegriffen, was die Verbreitung weiter vorantreibt. Im Fall von #609060 gab es beispielsweise diverse Artikel in verschiedenen kleinen Onlinemagazinen, aber auch auf Spiegel Online sowie diverse Radioberichte. Gelegentlich wurde ich kurz interviewt.

Oft sind Mems eine kurzfristge Angelegenheit, ein digitaler Hype sozusagen. Aber einige bleiben. Ein gutes Beispiel dafür sind die Chuck Norris facts.

#609060 bietet sich so gut zum Mitmachen an. Es reicht, ein Fotos von sich zu machen, es hochzuladen und mit dem Hashtag zu versehen. Darüber hinaus trug anfangs eine Diskussion dazu bei, dass dem relativ kleinen Mem ordentlich Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Ich hatte damit gerechnet, dass es Leute geben würde, die sich über die Bilder lustig machen würden; dass gehässige Kommentare über die Figuren und die Kleidung unter die Bilder gepostet würden. Aber nichts dergleichen geschah. Die Kritik kam für viele, die mitmachten, aber auch für mich überraschend, von ganz anderer Seite.

Es wurde das Wort “normal” kritisiert. Als Bildunterschrift für die Fotos hatte ich „Normale Menschen in Oberbekleidung #609060“ gewählt, was von einigen teilweise modifiziert übernommen wurde. Damit wollte ich keinen neuen Normbegriff aufstellen, sondern im Gegenteil die Vielfalt zur Norm erheben. Offenbar hatte ich das allerdings nicht deutlich genug formuliert.

Glücklicherweise kam der wichtigste kritische Text zum Mem von Anke Gröner, Werbetexterin. Ihre Anmerkungen waren sowohl klug als auch sachlich und ließen damit Raum für eine konstruktive Diskussion. Die Situation entspannte sich schnell.

Die Zahlen & Fakten

Seither finden sich bei Instagram mehr als 10.000 Bilder, die das Hashtag #609060 tragen. Etwa 290 unterschiedliche Leute haben bisher mitgemacht. Geschätzt stellt ein Drittel davon sehr regelmäßig Bilder online, ein weiteres Drittel sporadisch und ein Drittel setzt sich aus Gelegenheits- sowie Einmalnutzern zusammen.

Ein Großteil der 290 Personen sind Frauen, aber ca. 30 Männer gehören zum regelmäßigen oder sporadischen Drittel.

Das Geheimnis hinter der Dauerhaftigkeit

Der Spaß daran, sich selbst in Szene zu setzen, ist ein Aspekt, der den Reiz des Mems ausmacht. Durch das Mem habe ich – und viele, die mitmachen – z.B. begonnen, mehr auf Vielfalt bei der Auswahl meiner Kleidung zu achten. Auf einmal werden alte Röcke, Schuhe, Taschen, Schmuck, Schals herausgesucht, neu kombiniert oder man beginnt, bunte Leggings zu tragen. Variation, der Kleiderschrank ist ja nicht unendlich, wird auch mittels Bildunterschriften, Legomännchen, Zeichnungen oder Posen inszeniert.

Ein nicht minder wichtiger Aspekt ist allerdings die Freude am Facettenreichtum bei der Betrachtung anderer #609060-Bilder. Täglich sehe ich einen Ausschnitt aus dem Leben mir persönlich nicht bekannter Leute. Ich bin angetan von ihren schönen, interessanten, bewunderswerten, mutigen, chicen, witzigen, legeren Kleidungsstilen.

Das macht mir immer wieder bewusst, wie vielfältig und schön die Menschen und ihre Körper sind. Es gibt kleine, große, dicke, dünne, mitteldicke, mitteldünne, stramme und die unterschiedlichsten Proportionen. Bisher habe ich noch keine Modestrecke in einem Magazin gesehen, die so wild und unterhaltsam war.

Die Tatsache, dass der Umgang untereinander sehr entspannt, fröhlich, wohlwollend und respektvoll ist, zeigt, dass es den meisten genauso geht.

Und wo bleibt der professionelle Ansatz?

Als der mediale Hype am Anfang des Mems am größten war, fragte ein Modeanbieter an, ob man das Mem untersützen könne. Obwohl die Anfrage ausgesprochen kompetent (was leider sehr selten der Fall ist) war und aufrichtig wirkte, kam es nicht zu einer Kooperation. Das Angebot belief sich darauf, eine Plattform für das Mem zu stellen, aber die war bei Instagram ja bereits gegeben.

Das Fehlen eines kommerziellen oder ideologischen Ziels macht meiner Meinung nach den Reiz aus. #609060 lebt davon, dass es organisch gewachsen ist, dass es keine Einschränkungen oder Regeln gibt, dass die Leute Spaß daran haben, mitzumachen und sich nicht für irgendwas instrumentalisiert fühlen.

Über die Autorin: Journelle ist der Blog und Alias einer Hamburgerin, die ihren Arbeitsalltag weit jenseits der Medienwelt bestreitet. Auf ihrem Blog beschäftigt sie sich mit der Vielschichtigkeit ihrer Mitmenschen, Netzpolitik und dem Wahnsinn des Alltags.

[Anmerkung der Redaktion]: Um die Reichweite des Mems zu erahnen, empfehlen wir unseren medienrot-LeserInnen die einfache Google-Suche nach #609060. Die imposante Ergebnisliste zeigt, wie weit ein Thema letztendlich durch eine Aktion einer einzelnen Webperson in die etablierten Medien und die Blogwelt getragen werden kann. #609060-Suchergebnisse bei Google >>