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Wenn ein Artikel zu sehr funkelt

Foto: Henrik Andree für meko factory

Wie Reporter zu Popstars wurden, warum auch Lokaljournalismus nicht sicher vor Fälschungen ist – und wie die Branche das Vertrauen ihrer Leser zurückgewinnen kann: ein Abend zum Fall Claas Relotius.

Auch Wochen nach der Enthüllung um gefälschte Reportagen des Spiegel-Journalisten Claas Relotius beschäftigt der Fall die Menschen – das war an diesem Abend zu erkennen an einem voll besetzten Podium und zahlreichen Zuschauern, die sich in den Veranstaltungssaal im taz-Gebäude in Berlin drängten. Im Mediensalon am 6. Februar ging es um den „Fall Relotius und die Folgen für die Glaubwürdigkeit des Journalismus’“.

Wie es um Claas Relotius steht, was seine Beweggründe waren – darüber spekulierte die Runde glücklicherweise kaum. Statt nur um den Einzelfall ging es vor allem um die Frage, welche Entwicklungen im Journalismus dazu beigetragen haben, dass diese Fälschungen überhaupt möglich wurden – und welche Konsequenzen die Branche daraus ziehen sollte.

„Auf einmal folgte das diesen Hollywood-Gesetzen“

Hajo Schumacher (u.a. „Berliner Morgenpost“) schilderte, wie es in den 90er Jahren einen „kulturellen Klimawandel“ im Journalismus gegeben habe: Das Privatfernsehen kam auf, Werbung wurde zum Kult, es gab den Pop-Journalismus, Reporter wurden selbst zu Stars. „Auf einmal folgte das diesen Hollywood-Gesetzen, es musste krachen.“ Zu dieser Zeit habe sich beim Spiegel das Reporterressort gebildet, das ganz oben in der Hierarchie gestanden habe. Heute gelte das Gesetz: Wenn du eine Geschichte nicht entlang einer Person erzählen kannst, kannst du sie nicht erzählen. Dies sei ein großes Problem, beispielsweise im Bereich der Finanz- oder Sozialpolitik, so Schumacher.

Dass diese Entwicklung nicht nur schlecht sei, daran erinnerte Holger Stark (Mitglied der Chefredaktion der „Zeit“). Der Spiegel habe einen wesentlichen Anteil daran gehabt, dass Geschichten im deutschen Journalismus besser strukturiert und lesbarer wurden. Dann allerdings habe eine „Überparfümierung“ der Reportage stattgefunden.

Brigitte Fehrle (u.a. ehemalige Chefredakteurin der „Berliner Zeitung“) verwies darauf, dass die Artikel, die mit wichtigen Preisen ausgezeichnet wurden, über die Jahre immer spektakulärer geworden seien. Das Genre Reportage werde heute so gelehrt, dass es um die Dramaturgie gehe, darum, wie eine Geschichte „zu funkeln“ beginne. „In so einem Milieu fällt es nicht so schnell auf, wenn jemand fälscht“, sagte sie.

Alina Leimbach („Neues Deutschland“) berichtete, dass sie als Lokaljournalistin zunächst gelernt habe, über Menschen zu berichten – an der Journalistenschule seien diese Menschen dann nur noch zu Protagonisten „zusammengeschrumpft“. Es sei vor allem um die Suche nach Helden und Schicksalen gegangen.

„Irgendein kleiner Timmi wird da schon gewesen sein“

Dass Lokalzeitungen nahezu „fälschungssicher“ seien, wie Karsten Kammholz (Chefreporter Funke Zentralredaktion Berlin) sagte, weil Lokalreporter Tür an Tür mit ihren Protagonisten lebten, bezeichnete Bascha Mika (Chefredakteurin „Frankfurter Rundschau“) als naiv. Selbstverständlich sei es möglich, dass ein Lokalreporter etwa in ein Flüchtlingsheim gehe, mit Geflüchteten rede und sich dann Geschichten dazu ausdenke.

Moderatorin Tina Groll („Zeit Online“) berichtete von einem Erlebnis, das sie während ihrer Zeit bei einer Lokalzeitung hatte: Ein freier Mitarbeiter sollte an einem Wochenende über diverse Stadtteilfeste berichten. Da es zeitlich nicht möglich gewesen sei, sie alle zu besuchen, sollte er sich telefonisch über die Veranstaltungen informieren. Die Lokalredakteurin trug ihm auf, die Artikel dennoch so aufzuschreiben, als sei er dabei gewesen, mit einem szenischen Einstieg wie: „Der kleine Timmi hat so schön gebastelt.“ Als der Mitarbeiter Bedenken äußerte, habe sie gesagt: „Irgendein kleiner Timmi wird da schon gewesen sein.“

„Da haben Flaschensammler einen höheren Stundenlohn“

Immer wieder war die Rede von dem „Druck“, den Journalisten spürten, genau die Geschichte mitzubringen, die von der Redaktion erwartet werde. Zudem gebe es einen großen zeitlichen Druck, vor allem bei Tageszeitungen und Online-Redaktionen. „Der Zeitdruck erhöht die Fehlerquote und senkt journalistische Standards“, sagte Bascha Mika.

Einem besonderen Druck sind freie Mitarbeiter ausgesetzt – denn anders als Festangestellte müssen sie fürchten, dass sie nicht bezahlt werden, wenn eine Geschichte platzt. Ob freie Mitarbeiter nun einem besonderen Verdacht ausgesetzt seien, wollte Moderatorin Tina Groll wissen. Holger Stark sagte, es sei auch die Verantwortung der Redaktion, sicherzustellen, dass Artikel von freien Mitarbeitern einwandfrei recherchiert seien. Im Zweifel werde eine Geschichte eben erst später fertig, so Stark.

Katharina Dodel („Drehscheibe“) erinnerte daran, dass bei vielen Lokalzeitungen der Redaktionsleiter keine Zeit habe, Texte sorgfältig zu prüfen. Mit Blick auf Relotius sagte sie: „Ist es Druck, einen Journalistenpreis zu gewinnen? Druck ist, am nächsten Tag drei Seiten zu füllen, fünf Geschichten zu redigieren und zwei Artikel noch selbst zu schreiben.“ Es sei an der Zeit, Lokaljournalisten wieder mehr Zeit für die Recherche zu geben.

Peter Freitag (dju) nutzte die Fragerunde, um auf die Honorare von freien Journalisten zu verweisen. Diese seien bei vielen Verlagen „erbärmlich“. „Da haben Flaschensammler einen höheren Stundenlohn“, sagte Freitag. Das habe zur Folge, dass viele Themen nicht immer gründlich zu Ende recherchiert würden. Auch das sei ein Grund für das Glaubwürdigkeitsproblem von Journalismus.

„Es muss Emotion raus aus dem Journalismus“

Wie kann die Branche, wie können Artikel glaubwürdig bleiben? Ein wesentlicher Schritt sei mehr Transparenz, befanden die Diskutanten. Stark sprach sich dafür aus, innerhalb eines Artikels stärker auf die Recherche zu verweisen: Angaben zum Material, darüber, woher eine Information stamme, auch darüber, wo die Journalisten an die Grenzen ihrer Recherche gestoßen seien – diese Informationen sollten direkt im Text vermerkt werden.

Häufig wurde an diesem Abend eine andere Fehlerkultur, ein offener Umgang mit Fehlern innerhalb der Branche gefordert. Karsten Kammholz: „Wir machen jeden Tag Fehler, wir geben es aber nicht zu.“

Brigitte Fehrle schlug unter anderem vor, wieder stärker auf Ombudsleute in Redaktionen zu setzen und Leserbriefe gründlicher zu pflegen. Zudem forderte Fehrle, wieder mehr auf Fakten und Analyse zu setzen: „Ich glaube, es muss Emotion raus aus dem Journalismus“.

Autorin: Sarah Schaefer für meko factory