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Warum wir zum Newsroom pilgern

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Foto: © Fotolia/marco2811

Allmählich könnte Siemens-PR-Chef Oliver Santen Eintritt verlangen. Regelmäßig wallfahren Neugierige nach München, wo mit dem Newsroom das Herz der weltweiten Siemens-Kommunikation schlägt. Ganz aktuell reisten in der Tat zahlende Besucher einer PR-Report-Tour an, die Tour war ausverkauft. Ein nächster Termin steht bereits an. Und unlängst referierte Santen auch beim Kommunikationskongress zum Thema, und er hätte spielend einen weiteren Saal füllen können.

Die Kollegen stehen Schlange. Was treibt aktuell dieses Interesse am Newsroom, den Siemens bereits 2010 aufzubauen begann?

Santen selbst nutzt die Bühne der Branche geschickt, um Siemens als Innovationsführer zu positionieren. Seine Auftritte sind sympathisch, mit klaren Worten und amüsanten Anekdoten kontert Santen das vermeintliche Angstthema der Branche – die Digitalisierung der Unternehmenskommunikation.

Und weil außerhalb der PR-Szene die Anschlussfähigkeit (und damit Akzeptanz) von Kommunikation nicht immer gegeben ist, sendet ein Newsroom auch intern ein wertvolles Signal. Das beeindruckende Großraumbüro mit dem bunten Dashboard macht den Chefs auf den ersten Blick deutlich: Hier passiert die Kommunikation, wir haben sie buchstäblich auf dem Schirm. Live!

In einer Studie der PRCC Personalberatung und Lautenbach Sass präsentiert sich die Branche als abenteuerlustig und in digitaler Aufbruchstimmung, obwohl die befragten PR-Köpfe gleichzeitig großen Nachholbedarf auf diesem Gebiet einräumen und offenbar noch nicht wissen, wie sie ihn decken wollen. Unter der Hand höre ich dagegen immer wieder: Unsere Branche schwitzt angesichts des digitalen Wandels genauso wie viele andere auch. Den richtigen Weg kennt keiner.

Ein Thema, das Unternehmen wie Siemens, Allianz, Munich Re oder die Telekom vor Jahren gesetzt haben, erreicht als Trend die Breite. Mittelständler, NGOs, regionale Versorger. Der Newsroom ist in Mode, erkennbar auch daran, dass Agenturen daraus mittlerweile Produkte ableiten. Insgeheim sehnen sich viele nach einem Schwuppdiwupp-Konzept, mit dem der Digitalisierung quasi bis Dienstschluss beizukommen wäre. Liefert der Newsroom hier schnelle Antworten? Oder reicht gar ein Vortrag von Siemens’ Santen aus? Fast weckt diese Erwartungshaltung Erinnerungen ans alte Clipping-Buch, im Bestfall dicke Konvolute aus Presseschnipseln, die am Monatsende dem Chef oder dem Kunden signalisierten: job done! Ein gutes Gefühl!

Der Vergleich hinkt zugegebenermaßen. Die Newsroom-Idee, die Unternehmen von klassischen Zeitungshäusern adaptieren, stellt die richtigen Weichen. Als Konzept soll der Newsroom kommunikative Silos aufbrechen, komplexe Kommunikation beschleunigen, sichtbar und beherrschbar machen. Der Blick richtet sich auf relevante Themen und Zusammenhänge, löst sich von der Kanaldenke.

In der Praxis ist neben der Kulisse allerdings vor allem die Besetzung entscheidend. Selbst große Unternehmen suchen händeringend nach den gierigen Geschichtenerzählern, die den ständigen Nachrichtenzufluss brauchen, die sich innerhalb und außerhalb des Unternehmens Netzwerke erschließen. Gefragt sind Köpfe, die wissen, wie sich Themen und Botschaften in der digital vernetzen Welt absetzen lassen, obwohl sich der Algorithmus als harte Tür erweist.

Über das perfekte Profil moderner Kommunikationsprofis – und darüber, in welcher Aufstellung sie optimal funktionieren – streiten die Vordenker der Zunft. Keiner weiß, welche Kompetenzen in Zukunft wirklich den Unterschied machen. Unzweifelhaft scheint: Der klassische Pressesprecher muss umschulen, weil sich sein Berufsstand radikal ändert und er im Unternehmen sein Spiel über Abteilungs- und Hierarchiegrenzen hinweg ausweiten muss. In der Breite tut man sich noch schwer, nach den vielen Jahren im PR-Dienst eine neue Aufbruchstimmung zu entwickeln. Allüren, Anspruchshaltung und Tunnelblick behindern den Generationenwechsel, der offenbar schneller erforderlich ist als viele vermutet hätten.

Der Newsroom bedeutet, einen langwierigen und möglicherweise schmerzvollen Wandel anzupacken, ob Sie ihn als große Bühne inszenieren wie Siemens oder ihre Leute rein virtuell zu mehr Zusammenarbeit und Austausch erziehen. Der Newsroom ist mehr ein Appell an Ihre Mitarbeiter für ein neues Selbstverständnis, weniger ein Signal nach draußen – weil es Journalisten, Influencern und Ihren Stakeholdern vermutlich egal ist, ob Sie während der Arbeit im Einzelbüro, am runden Tisch oder in der Badewanne sitzen.

Sie müssen Ihre Mitarbeiter aufwecken, ausbilden, mitziehen. Sie sind das knappe Gut, und diese Tatsache dürfte auch für Siemens die große, anhaltende Herausforderung sein. Wenn Sie gut hinhören: Oliver Santen sagt das eigentlich auch.

nico-kunkel_150x150pxÜber den Autor: Nico Kunkel ist seit mehr als zehn Jahren professioneller Beobachter von Themen und Trends in Kommunikation, PR- und Medienindustrie. Er arbeitet als freier Journalist und Impulsgeber für Events und Netzwerke in der Branche. 2012 begründete Kunkel die PR-Nachwuchsinitiative #30u30 (www.30u30.de) – und inspizierte mit dieser Anfang September selbst den Siemens-Newsroom. Nico Kunkel lebt in Berlin. Er twittert als @prreporter.